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expose-am-wegesrand.de Freies museales Sammelprojekt. Online - Offline.
29.09.2023 14:18

Gebrochener Torso (0006-2023)

„Gebrochener Torso einer weiblichen Gestalt mit etwas dicklichem Hintern“ ist auf dem Kärtchen zu lesen. Die Notiz erinnert mich zwar an den Fundort: „auf einem Sandweg gefunden am So 18. Juli 2004 bei Höpershöfen (Bötersen).“ An den Spaziergang aber kann ich mich nicht mehr erinnern.

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Nur vage und schwach taucht ein Bild auf, wie ich den Stein vor mir auf dem Weg liegen sehe und aufhebe. Wieder zuhause muss ich kurz danach das Karteikärtchen beschriftet haben. Nicht dass ich so etwas immer täte, nur in diesem und in einem anderen (schon früheren) Fall spielte ich „Archivar von historischen und besonderen Funden“. Das andere, frühere „Ding“ mit Karteikärtchen und Fundort ist der „Stein des Anstoßes“.(1)

Schon damals keimte die Idee, Dingen mit besonderer Bedeutung als historisch relevante Gegenstände zu behandeln. Jedoch sollte solchen Dingen nicht krampfhaft etwas aufgezwungen oder eine Geschichte frei erfunden werden. Sondern eine Geschichte muss sich ergeben. Ein Ding muss quasi selbst sprechen, z.B. indem eine Beziehung entsteht, eine Verbundenheit sich einstellt – oft erst im Nachhinein. Wohin das führen kann, zeigt sich anhand des Konzepts zum Projekt „Dinge – Exposé am Wegesrand“ (kurz Exposé) und seiner Realisation auf meiner Webseite Kulturelle-Impulse.de. Zurück zum Stein. Es ist ein Unterschied, ob human den Stein in der Hand halten und damit spielen kann (der Stein also „schmeicheln“ kann), oder ob er nur auf Fotos betrachtet wird. Die Wahrnehmung des Steines als Torso mit weiblichen Konturen ist beim Drehen und Wenden in der Hand also deutlicher. Seine Bruchkante ist auf den meisten Fotos nicht zu sehen.

Lange Zeit lag der Stein in meinem Arbeitszimmer. Manchmal nahm ich ihn in die Hand, drehte ihn herum und freute mich einfach daran. Das Karteikärtchen verblasste, in der Gegend um Höpershöfen/Bötersen in der Nähe von Rotenburg a. d. Wümme war ich seit dem Fund nicht mehr spazieren. Die Stelle würde ich wahrscheinlich auch nicht mehr finden.

Eine neue Wendung bekam die Geschichte des gebrochenen Torsos, als ich Anfang des Jahres 2023 mit einer guten Bekannten das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen besuchte. Wir treffen uns von Zeit zu Zeit, um eine Ausstellung anzusehen und gemeinsam auf Entdeckungs-tour zu gehen. Anlass war also diesmal die Sonderausstellung »Die Firma Arp. Formenkosmos und Atelierpraxis«. Im Begleittext zur Ausstellung ist zu lesen, dass Hans Arp, „… einer der Initiatoren von Dada und Mitbegründer des Surrealismus …“ war und weiter, dass er „… mit seiner vielfältigen und organischen Formensprache maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der abstrakten Kunst …“ hatte.(2)

Gezeigt wurden zahlreiche Gipsplastiken, die Hans Arp in seinem Atelier beim Entwerfen neuer Skulpturen anfertigte. Es standen also nicht die eigentlichen, späteren Skulpturen aus Bronze oder Stein im Zentrum der Ausstellung, sondern die Gipsmodelle dafür. Die Gipsmodelle standen recht dicht beieinander und aneinandergereiht auf langen Tischpodesten. Also anders als Kunstwerke sonst, die betont solo als Einzelstücke präsentiert werden.

Wir liefen entlang den aufgereihten Gipsmodellen, bückten uns und drehten unsere Köpfe. Es war eine Entdeckungsreise an Formen und Übergängen, wir blickten hier und blickten da hin, versuchten neue Blickwinkel und Betrachtungsweisen. (Rilke: „Du musst dein Leben ändern.“)​​​​​(3) Meine Museumsfreundin machte währenddessen einige Fotos und schickte sie mir später. 

Wann genau mir mein Stein, der gebrochene Torso, in den Sinn kam, kann ich nicht mehr sagen. Spätestens aber zu Hause, denn kurz nach dem Besuch im Gerhard-Marcks-Haus nahm ich den Steintorso in die Hand und fotografierte ihn ganz spontan aus verschiedenen Blickwinkeln, um meine Entdeckung der Ähnlichkeit zu den Kunstformen von Hans Arps Gipsskulpturen zu erfassen.

Spielt Mutter Natur mit sich, mit uns und den von uns hergestellten Formen? Mimt sie nach, formt nicht nur aus ihrem Repertoire, sondern auch aus unserer Kunst natürliche Gestalten? 

31.08.2023 / Elsbeth Kautz
Datum / Beitrag von Benutzer-Nick-Name


Abbildungen:
Objektfotos Naturstein: Elsbeth Kautz
Foto Spiegelung der Ausstellung Hans Arp im Fenster des Gerhard-Marcks-Haus in Bremen mit Blick auf die Wallanlagen: Sylvia Vogel

Anmerkungen:
(1) Stein des Anstoßes / Exposé 0005-2023 im Projekt „Dinge – Exposé am Wegesrand".
(2) https://marcks.de/de/die-firma-arp/ (Hans Arp Sonderausstellung 06.11.2022-29.02.2023).
(3) Siehe Zitat bei Wikipedia https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Du_mu%C3%9Ft_dein_Leben_%C3%A4ndern&oldid=227271732 :„Du mußt dein Leben ändern (Untertitel: Über Anthropotechnik) ist der Titel eines 2009 erschienenen Essays des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk. Der Titel bezieht sich auf Rilkes Sonett Archaischer Torso Apollos, das mit diesem Satz schließt. Die zentrale Überlegung ist, dass der Mensch – als ein lebenslang Übender – sich im Üben selbst erschafft.“


Datenblatt und Druckversion siehe Sammlung.