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19.09.2023 14:15

Souvenirs everyone comes in this room (0002-2023)

Das T-Shirt mit dem Spruch darauf ploppt immer mal wieder in meinem Gedächtnis als Erinnerung auf: "SOUVENIRS EVERYONE COMES IN THIS ROOM. JEAN CAMILLE D… 1974 -76" und im Geist wird bei mir automatisch ergänzt: "and Guy B...". Leider ist die Schrift auf dem T-Shirt nicht zu entziffern.

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Ich weiß deshalb nicht genau, ob meine Erinnerung mich trübt und wie die Aufschrift tatsächlich lautete. Sowieso dachte ich immer, es stünde auf dem T-Shirt „Remember everyone …“ Für was steht das T-Shirt und an wen soll sich jeder erinnern? Das Zimmer wurde schon lange verlassen, das Haus abgerissen. Und damit sich trotzdem noch jeder erinnern kann - an Jean und Guy - erzähl ich hier die Geschichte dazu …

 „Souvenirs everyone comes in this room remember Jean … 1974-76“, der Text auf dem T-Shirt ist nicht mehr zu entziffern. Doch das macht nichts, Hauptsache die Erinnerung ist da. Über das Plural von Souvenirs wundere ich mich etwas, aber das tut nichts zur Sache. Dass ich das Foto überhaupt habe, ist auch eher Zufall, als dass ich das Shirt mit der Widmung damals wirklich bewusst fotografiert hätte. Auf dem Bild ist zudem alles mögliche Zeug zusehen. Ich weiß nicht, weshalb ich die Zimmerecke so aufgenommen habe. Was war mein Motiv? Das Foto jedenfalls entstand spätestens im Januar 1984, wie ein Aufkleber von „Revue Weltbild“ auf der Rückseite beweist. Auf weitere Bildinterpretationen verzichte ich hier, vielleicht hänge ich zum Schluss noch etwas an. Für die digitalen Nativs: Damals wurden Fotos noch analog auf einem Film abgelichtet, der als Filmnegativ entwickelt werden musste. Erst danach konnte daraus das eigentliche Foto hergestellt werden. 

Zu Jeans und Guys Zeiten, als die beiden regelmäßig bei uns ein und aus gingen, wurde das Zimmer noch von meinem älteren Bruder genutzt und war auch ganz anders eingerichtet. Als es noch sein Zimmer war, war es das Durchgangszimmer zu meinem etwas kleineren Jugendzimmer. Ihm war es zu verdanken, dass die beiden zu Freunden der ganzen Familie wurden. Wir waren damals noch Schüler und verbrachten die Sommerferien im Freibad, soweit es das Wetter zuließ. Wir, mein älterer Bruder und ich, waren aber immer unabhängig voneinander im Freibad, jeder hing mit seiner eigenen Clique aus der Realschule ab.

Eines Tages lernte er Jean und Guy dort kennen, es muss im Sommer 1975 gewesen sein. Die Beiden waren GIs und als US-Soldaten in den Wharton-Baracks in Heilbronn-Neckarslum stationiert. Mein Bruder brachte sie mit nach Hause, und ja was soll ich sagen, bald gehörten sie zur Familie. Unsere Eltern waren sehr offen und wir durften jeden mitbringen. Jean und Guy sprachen natürlich nur amerikanisch, wir solides Schwäbisch. Mein Bruder konnte Schul-englisch und hatte sich die Sprache auch über die Musik, über Blues-, Rock- und Folksongs angeeignet. Naja, ich war so 13, 14 Jahre alt und es reichte für ein paar Sätze, mehr auch nicht. Es war Mitte der 1970er Jahre und die sogenannte Popkultur voll im Gange. Mein Bruder hatte bereits einen soliden eigenen Plattenspieler mit ordentlichen Boxen und ein Ton-band, ich nur so ein simples Plastikteil.

Wie haben wir uns mit Jean und Guy unterhalten? Konnten die beiden etwas Deutsch? Es bleibt mir ein Rätsel. Sie saßen oft sonntagmittags bei uns am Tisch. Der wurde ausgezogen, damit alle daran Platz hatten. Wir, zusammen mit den Eltern und meinem jüngeren Bruder, waren alleine schon 5, dann noch Jean und Guy, und manchmal brachten sie noch einen weiteren GI mit. Und natürlich gab es Sonntagsbraten mit Spätzle und Salat. Von Zeit zu Zeit brachten Jean und Guy Großeinkäufe von der Kaserne mit, mein älterer Bruder begleitete sie dabei. Unter dem Bett meiner Mutter lagerten kleine Paletten mit Cola-Dosen, einmal hatten sie irgendwelches lilafarbenes, klebriges Colazeug mitgebracht, das war vielleicht süß.

Rückseite eines Fotos von Jeans Sohn, beschriftet von Jean.

Einmal, als ich früher von der Schule nach Hause kam, parkte der Jeep von Guy vor unserer Haustüre. Ihm gefiel die schwäbische Angewohnheit, an Arbeitstagen morgens zwischen 9 und 10 Uhr Vesper zu machen. Dazu gehörte es, dass man beim Metzger ein Stück warmen Fleischkäse besorgte und beim Bäcker ein frisches Weckle, Laugenweckle oder eine Brezel holte. So saß er dann bei meiner Mutter in der Küche. Guy, ein New Yorker, stammte von Haiti. Einmal bat ich ihn, mit mir Französisch zu lernen. Als Haitianer war das für ihn neben dem Amerikanischen seine Muttersprache. Er lobte und ermunterte mich, weil er es ja toll fand, dass ich mich überhaupt für seine Sprache und auch ihn interessierte. So saß er neben mir an meinem kleinen Schreibtisch und hörte sich mein französisches Gestammel an. Französisch lernte ich damals freiwillig in einer AG, Arbeitsgemeinschaft, einmal nachmittags in der Woche.

Mein älterer Bruder brachte in dem letzten Jahr, bevor die beiden wieder nach Amerika abreisten, die Realschule zu Ende. An seinem letzten Schultag wurde er von Jean mit dem Auto meines Vaters abgeholt. Die beiden waren ja viel älter als wir. Jean muss übrigens Mediziner gewesen sein, denn mein Bruder erzählte dazu immer eine Anekdote. Er habe Jean beim Kennenlernen gefragt, was er von Beruf sei. Und Jean habe geantwortet: „I make pictures of the body.“ Bei meinem Bruder herrschte zunächst Irritation, war er an einen Pornofotografen geraten? Aber nein, Jean war Röntgenarzt. Ich bin mir nicht sicher, von wo Jean kam. Aus Florida vielleicht? Eine meiner Nichten, Smartphone affin, fand den Sohn von Jean über Social Media und erfuhr, dass Jean bereits gestorben sei. Ich bin nicht in den entsprechenden Kanälen angemeldet und unterwegs, konnte ihn aber auch so durch die Eingabe des Nachnamens finden. Eindeutiges Indiz ist, dass er in den Social Media ein Foto von sich als kleinem Kind als Erkennungsbild verwendet, das ihn in den gleichen kurzen Pants zeigt, wie auf einem der Fotos, die Jean uns irgendwann in den 1980er Jahren geschickt hat. Das konnte ich auch ohne Anmeldung und Kontakt herausfinden. Irgendwann werde ich mich vielleicht doch auf einem der Kanäle anmelden und mich bei ihm melden. Mal sehen …

Schließlich war die Militärzeit der beiden zu Ende. Jean und Guy reisten zu unterschiedlichen Zeiten ab. Jean war der Erste. Die letzten Tage vor seinem Abflug verbrachte er bei uns, mein Bruder teilte sein Zimmer mit ihm. Etwas später musste sich auch Guy verabschieden, wie Jean quartierte er sich während der letzten freien Tage bei uns ein. Geblieben sind: ein Polaroidfoto von Jean, aufgenommen bei uns im Wohnzimmer, ein paar Fotos von Jeans kleinem Sohn aus den 1980er Jahren und ein Brief von Guy an mich aus dem Jahr 1994. Und die Erinnerungen. Ach ja, die beiden waren „people of color“, „Schwarze“ wie wir damals sagten. Ändert das etwas an der Geschichte?

Brief von Guy aus dem Jahr 1984. Die Briefmarken wurden von Guy vermutlich nicht zufällig ausgewählt, zeigen sie doch eine Persönlichkeit aus der Reihe Black Heritage: den Anthropologen und Pädagogen Dr. Allison Davis. (Siehe: https://postalmuseum.si.edu/exhibition/the-black-experience-shaping-education/dr-allison-davis)


Nachtrag I

Aufgrund der Bild- und Persönlichkeitsrechte zeige ich hier keine Fotos von Jeans kleinem Sohn. Von Jean besitze ich zwar ein Polaroidfoto (er sitzt bei uns im Wohnzimmer und blättert in einem Fotoalbum), jedoch ist er darauf wegen der schlechten Lichtverhältnisse aber kaum zu erkennen. Zuletzt dachte ich, die Geschichte, die Story funktioniert ohne Fotos sogar besser.

Nachtrag II

GIs und die Wharton-Baracks in Heilbronn bzw. deren Zweigstelle in Neckarsulm

Die sogenannten GIs, wie wir die amerikanischen Soldaten nannten, und die Präsenz der Streitkräfte in den US-amerikanischen Kasernen gehörten für uns damals mehr oder weniger unhinterfragt zum Alltag. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Beendigung der National-sozialistischen Herrschaft war Deutschland von den Alliierten in Besatzungszonen aufgeteilt worden. Der nördliche Teil des heutigen Baden-Württembergs wurde von den US-Amerikanern neu gebildet. Seit 1952 besteht Baden-Württemberg in seiner heutigen Form. Wir, Anfang der 1960er Jahre geboren, waren noch Teenager und unser politisches Bewusstsein erwachte erst mit der Protestkultur gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte wurde eigentlich erst mit dem Ausbau des Militärstützpunkts für Nuklearwaffen auf der Heilbronner Waldheide kritisch gesehen. 1985 ereignete sich dort ein Zwischenfall mit einer der Pershing-Raketen, es kam zu einer Explosion und es gab Verletzte und 3 Tote. Gegen die Stationierung von Atomsprengköpfen auf der Heilbronner Waldheide im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses (1979) war schon vorher protestiert worden. Infolge des Unfalls und der – wie es sich zeigte – nicht vorhandene Pläne im Katastrophenfall wurde es auch den Offiziellen in Heilbronn zu brenzlig. Ich erinnere mich auf einer Demonstration Anfang der 1980er Jahre gewesen zu sein, auch gab es zumindest ein-mal einen demonstrativen Sonntagsspaziergang auf der Waldheide. Die Streitkräfte selbst wurden nicht in Frage gestellt. Aber zu dem Zeitpunkt waren unsere amerikanischen Freunde schon längst abgereist. 1,2


19.09.2023 / Elsbeth Kautz
Datum / Beitrag von Benutzer-Nick-Name

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Anmerkungen

(1) Zum Verständnis der historischen Zusammenhänge, weshalb US-Streitkräfte in Deutschland und damals bei uns im Kreis Heilbronn und auf der Waldheide stationiert waren, habe ich hier einige Links spontan zur Orientierung ausgewählt. Dass darunter eine FDP nahe Quelle (https://www.udo-leuschner.de/zurperson.htm) neben einer Quelle der Linken zu finden ist, zeigt, dass es mir nicht auf politische Orientierung ankommt, sondern lediglich auf einen Einstieg in den Zeitzusammenhang.

(2) Erinnerungen einer Autorin aus Neckarsulm an einen GI aus den Wharton-Baraks siehe: ​https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/deutsch-amerikanische-freundschaft-anno-1985-li.86255​​​  Die Autorin wird nicht namentlich genannt. Artikel „Deutsch-amerikanische Freundschaft anno 1985“, erschienen in der Berliner Zeitung online am 07.06.2020.


Datenblatt und Druckversion siehe Sammlung