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08.08.2023 10:00

Der italienische Krug (0001-2023)

Der Krug ist ein Mitbringsel von ehemaligen Nachbarn in meinem Heimatort. Die Nachbarn waren als sogenannte Gastarbeiter von Italien aufgebrochen und nach Deutschland gekommen. Arbeit gab es genug in den Industriebetrieben in der nächsten Stadt und der Kreisstadt. Die Kinder waren

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in etwa unserem Alter und bald freundeten wir uns zum Spielen an. Irgendwann zog die Familie aus Italien um, und wir erhielten eine Familie aus Jugoslawien als neue Nachbarn. Der Krug stand dann lange in der Wohnung meiner Eltern. Nachdem beide verstorben sind, übernahm ich den Krug. Er steht jetzt bei mir auf einem Schrank.

Es muss Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, als in das Haus auf der anderen Straßenseite eine Familie aus Italien einzog. Die Straße lag an einem Hang und führte stadtauswärts den Berg hinauf. Wir, meine Eltern mit uns drei Geschwistern, lebten unter einem Dach mit Oma, Opa, Großtante, sowie einer Tante mit ihrem Mann und Sohn, alle drei Kleinfamilien jeweils in separaten Wohnungen.

Mir schien es als Kind immer so, als sei das Haus mit seinen Bewohnern irgendwie gewachsen und bei Bedarf an- und umgebaut worden. Die Haustür war direkt zur Straße hin, mit einem Schritt stand man auf dem Trottoire. Daneben gab es einen größeren Toreingang zu unserer „Halle“, die ein kellerartiger Durchgang mit Verschlägen und Seitenräumen für die Werk-statt, den Mostkeller und Lagerflächen für allerlei war, was man so brauchte, wie zum Beispiel Kohle und Briketts oder diverse Handkarren und Leitern. Von dort aus konnte man in den Hof hinterm Haus und auf verschlungenem Weg ins Treppenhaus gelangen. Seitlich neben dem Haus zur Straße hin befand sich ein Gartentor als Zugang zu einem Weg, der ums Haus her-um nach hinten zum Hof und unserem Garten führte. Links und rechts neben unserem Grund-stück schlossen andere Gebäude an.

Vom Hof konnten wir durch ein zweites Gartentor auf das weitläufige Nachbargelände einer ehemaligen Brauerei gelangen. Wir durften dort Teile eines großen Gartens mitbenutzen. Zwischen Gebüschen und Sträuchern führten verschlungene Wege um das eigentliche Betriebsgelände zu einem Hang mit Obstwiese, mit Apfel- und Birnbäumen und einer Quelle, die inmitten eines riesengroßen Brombeergebüsches entsprang. Im Winter war das unser „Skigebiet“. Zu der Zeit diente das Betriebsgelände nur noch als Niederlassung und Umschlagplatz einer Großbrauerei aus der Landeshauptstadt, die die ehemalige Brauerei übernommen hatte. Es war fantastisch für uns Kinder, weil wir dort auch spielen durften. Ich könnte noch viel davon erzählen, was es damit auf sich hatte, wie wir spielten, aber das sind andere Geschichten. Es kann sich jeder leicht vorstellen, wie wir Kinder draußen spielten und dass die neuen Nach-barskinder leicht miteinbezogen werden konnten.

Das Nachbarshaus gegenüber war, anders als unser Haus, an den Hang gebaut und nur über eine lange und hohe Außentreppe zu erreichen. Das Haus war mehrstöckig und die italienische Familie wohnte im ersten Stock, der über die Außentreppe zu erreichen war. Schauten wir aus den Fenstern, konnten wir uns über die Straße hinweg begrüßen und bequem unter-halten, was damals noch allgemein üblich war. Überhaupt war aus dem Fenster schauen gang und gäbe - dabei war es praktisch, ein Kissen unter die Arme zu legen, damit es nicht drückt.

An den ersten Kontakt mit den Kindern aus Italien kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an die Wohnung und dass ich da einige Male war. Meistens spielten wir aber draußen. In einem Schuppen auf dem Hof durften wir uns im Sommer einrichten, wenn noch kein Holz eingelagert war. Das heißt wir möblierten den Schuppen auf Kinderart mit Kisten und was wir so fan-den. Die älteste Tochter von der Familie gegenüber war in etwa so alt wie mein älterer Bruder, ich war etwas jünger. Wir waren anfangs alle noch Grundschüler, nach und nach wechselten wir auf die Volks- oder Realschule. Die zweitälteste Tochter der Familie aus Italien war jünger als ich, das dritte Kind war ein Junge im Alter meines jüngeren Bruders. Ein viertes Kind kam erst in der neuen Heimat Deutschland zur Welt.

Ihre Mutter, Maria, war Hausfrau wie fast alle Mütter damals, auch meine Mutter. Wobei meine Mutter, sie hieß Dora genannt Dorle, ging wie vermutlich viele andere auch, nebenbei noch Putzen. Meine Mutter beispielsweise putzte montags bis freitags, immer von 16 bis 19 Uhr, im Verwaltungsgebäude der Brauereiniederlassung, von der ich oben schon erzählt habe. Der Vater der Nachbarsfamilie, Umberto sein Vorname, arbeitete in einem der großen Industriebe-triebe. Deshalb war die Familie wie so viele andere – die meisten stammten aus Italien oder der Türkei - hierhergekommen. Gastarbeiter nannten man sie damals. Ich bin mir nicht sicher, ob er bei dem großen Automobilhersteller (damals NSU, heute Audi) in der Nachbarstadt, oder einer der vielen Zulieferbetriebe zur Arbeit ging. Väter gingen morgens zur Arbeit und kamen irgendwann abends zurück oder arbeiteten im Schichtbetrieb. Ich erinnere mich an die nicht enden wollende Fahrzeugschlange, die sich im Rhythmus des Schichtbetriebs langsam durch unseren Ort quälte. Die Mütter waren im Alltag von uns Kindern präsenter, schließlich waren sie für unser Mittagsessen zuständig.

An einen Spieltag, oder besser gesagt müssen es mehrere Tage hintereinander gewesen sein, erinnere ich mich besonders. Auf unserem Speicher standen einige alte Holztruhen, Kommoden und alte Koffer herum. Schon immer habe ich gerne da oben herumgekramt. Wir nannten den Dachboden „Bühne“, er war über eine enge Holzstiege zugänglich. Schon das war eine Einladung zu Abenteuer. Alte Kleider, Schuhe und anderes Zeug war in den Kisten und Schubladen untergebracht. Zum Beispiel ein Bolerojäckchen eines Turnerkostüms, das einem jüngerer Bruder meines Vaters gehörte. Er war in seiner Jugendzeit Kunstturner. Damenkleider aus den 1950er Jahren und weiße, spitze Pumps mit hochhakigen Pfennigabsätzen waren darunter, ebenso alte Mäntel und Herrenkleidung.

Eines Tages wurde das ganze Zeug heraus- und runtergeholt. Vielleicht weil aufgeräumt wurde, als das Dach saniert wurde? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls liefen wir Kinder mehrere Tage mit Stöckelschuhen und Sommerkleidern aus den 1950er oder 60er Jahren herum, über die Straße, hin und her. Ein Sommerkleid war gelb mit V-Ausschnitt, der Stoff aus Synthetik und figurbetont mit schlanker Linie. Mir ist es als wären alle daran beteiligt gewesen oder zu-mindest doch Zuschauer für unser Schauspiel. Das letzte Erinnerungsbild in meinem Gedächtnis ist ein Berg von Zeug und Klamotten mit den Stöckelschuhen oben drauf im Hof hinterm Haus. Es war reif für den Sperrmüll.

Und der Krug? Der italienische Krug, was hat der damit zu tun? Wie es damals üblich war, fuhren die sogenannten Gastarbeiter in den Sommerferien in ihre Heimat. Und damit es sich richtig lohnte so weit zu fahren, wurde meist der ganze Jahresurlaub genommen. Sie waren dann mehrere Wochen weg. Das Auto war auf dem Hinweg mit Mitbringseln aus Deutschland für die Leute in der Heimat und auf dem Rückweg mit Sachen von dort vollgepackt. Auf diesem Wege gelangte der Krug von Italien nach Deutschland in unsere schwäbische Stube.

Und erst jetzt wird mir so richtig klar, dass ich nicht weiß aus welcher Gegend in Italien die Familie stammte. Wie kann das sein? Habe ich es vergessen oder nie gewusst, weil wir nicht nachfragten? Italien war für uns irgendwo, weit weg. Wir, das heißt meine Eltern, fuhren nie in den Urlaub. Mein Vater, Herbert oder Hebbe wie ihn alle nannten, nutze seinen Sommerurlaub für dringend anstehende Renovierungsarbeiten am Haus. Schließlich gab es immer etwas zu tun. Er hat es übrigens in den 1950er Jahren nicht in der Enge der Autofabrik ausgehalten und auf Maurer umgesattelt, damit er im Freien und selbstbestimmter arbeiten konnte.

Nachdem die Familie aus Italien in eine andere Wohnung umgezogen war, erhielten wir neue Nachbarn, eine Familie aus Jugoslawien. Diese hatte eine Tochter und war in etwa so alte wie mein jüngerer Bruder. Meine Mutter pflegte eigentlich immer den Kontakt zu allen Nachbarn und war interessiert, wie es ihnen geht. Bei mir ließ das Spielen über die Straße nach, als Teenager und als junge Erwachsene suchte ich Bekanntschaften in weiteren Kreisen und zog schließlich in den hohen Norden.

Der Dorffunk in unserer Kleinstadt funktionierte lange noch gut genug, sodass mich in späteren Jahren, als ich schon längst wo ganz anders wohnte, noch immer hier und da Nachrichten erreichten, beispielsweise wie es dem Vater der italienischen Familie ging, wo er wohnte, dass er irgendwann ein bestimmtes Gartenstück jetzt als Schrebergarten übernommen hatte. Von der ältesten Tochter weiß ich, dass sie mit einem ehemaligen Schulkameraden meines ältesten Bruders verheiratet ist. Wer weiß, vielleicht schreibe ich sie eines Tages an und frage sie, ob sie sich an den italienischen Krug erinnern kann, an den Urlaub in ihrer Heimat, an den Sommer, wo sie den Krug für uns als Geschenk aus Italien mitbrachten. Ja und aus welcher Gegend in Italien sie kommt, aus welchem Ort, das würde ich sie dann auch endlich fragen.

An den Krug aus Italien hängen sich Erinnerungen aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren an. Erinnerungen gehorchen eigenen Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten. Erst beim Schreiben zeigte sich, dass über die Familie aus Italien wenig Faktisches gewusst wird, ob-wohl dem Krug selbst eine große Bedeutung zukommt. Auch spielten wir Kinder nicht so oft und dauerhaft miteinander wie ich es beispielsweise mit meiner Freundin aus dieser Zeit tat. Sie wohnte die Straße ein Stück weiter oben. Wir beide spielten oft miteinander, bei ihr oder mir zuhause, drinnen wie draußen. Und wir konnten uns sogar über das oben beschriebene weitläufige Brauereigelände hinter den Wohnhäusern herumtreiben und von dort aus uns „hintenherum“ gegenseitig besuchen. Der Hang mit der Obstwiese war im Winter unser Ski- und Rodelparadies. Andere Kinder getrauten sich nicht da drauf, es war eingezäunt. Und die Nachbarskinder aus Italien war nie dabei. Ob sie bei den Versteckspielen auf unserm Hof, rund ums Haus und manchmal über das ganze Brauereigelände mitgemacht haben?

Unser altes Haus wurde Mitte der 1980er Jahren abgerissen. Es lag in einem Sanierungsgebiet und meine Eltern hatten die Chance genutzt, um dahinter angrenzend an unser altes Grundstück ein neues Haus zu bauen. Das fantastische Brauereigelände gibt es nicht mehr. Neue Baugrundstücke wurde darauf erschlossen, auf unserem „Skigebiet“ stehen jetzt Einfamilienhäuser.

Ich habe nur die Vornamen der Eltern genannt, um der Geschichte etwas von der Anonymität zu nehmen. Die Vornamen meiner Geschwister und die der 4 Kinder der Familie aus Italien habe ich weggelassen. Jeder ist frei, sich selbst welche auszudenken.

Bleibt abschließend anzumerken, dass ich den Besitzer der Nachbarshauses, in dem die italienische Familie gewohnt hatte, kurz vor dem Tod meines Vaters bei uns im Haus getroffen haben. Er brachte meinem Vater Obst aus seinem Garten. Er erzählte uns, dass sie das Haus verkauft hätten und bald wegziehen würden. Mein Vater sei dann „der letzte Mohikaner“, das hieß der letzte Alteingesessene in der Straße. Mein Vater starb kurz darauf, meine Mutter war schon einige Jahre früher gestorben. Als ich zum Ausräumen des Hauses nochmals dort war, traf ich den Nachbarn und seine Frau nochmals. Wir verabschiedeten uns in dem Wissen, dass eine Zeit vorüber war.

08.08.2023 / Frieda Kaa
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